Frau am Wasser

Es war ein schöner, sonniger Tag im Spätsommer – die Art von Tag, an dem die Luft noch warm, aber bereits vom nahenden Herbst geküsst war. Die Blätter an den Bäumen begannen langsam, ihre Farben zu wechseln, und alles um mich herum schien in goldenes Licht getaucht. Deine Nachricht, ich solle mich nicht einfach nur zuhause verkriechen, sondern rausgehen und Menschen treffen, ließ mich schmunzeln. Ich wusste, du meinst es gut, aber in dem Moment freute ich mich, ein bisschen Zeit für mich zu haben. Und doch, während ich mich daran erinnerte, wie du mir schriebst, konnte ich nicht anders, als schon deine Nachrichten zu vermissen.

Um einen Kompromiss zu schließen, entschloss ich mich zu einem kleinen Spaziergang. Mit meiner Lieblingsmusik auf den Ohren und dem Gedanken, vielleicht ein wenig Inspiration für mein Buch zu sammeln, zog ich los.  Das sanfte Rauschen des Flusses begleitete mich und schuf eine friedliche Kulisse, während ich meinen Gedanken nachhing. Es war fast, als könnte ich spüren, wie meine Kreativität mit jedem Schritt wuchs.

Es war einer dieser seltenen Momente, in denen man alles um sich herum vergisst und nur im Hier und Jetzt verweilt. Doch dieser Moment war von kurzer Dauer, denn etwas – oder besser gesagt, jemand – zog plötzlich meine Aufmerksamkeit auf sich.

Auf einem kleinen Sandstreifen neben einem alten Fischerboot saß eine Frau auf einer Decke. Ihr schulterlanges, braunes Haar schimmerte in der Sonne, und die leichte Brille auf ihrer Nase ließ sie noch konzentrierter wirken, während sie völlig in ihr Buch vertieft war. Sie trug ein sommerliches, weißes Kleid, das sich sanft um ihren Körper legte, und ihre gesamte Erscheinung strahlte eine Mischung aus Ruhe und Unbeschwertheit aus. Ohne es wirklich zu wollen, musste ich sofort an dich denken. An deine Art, in einem Buch zu versinken, die Welt um dich herum zu vergessen – ja, sie erinnerte mich auf seltsame Weise an dich. Je länger ich sie ansah, desto nervöser wurde ich. 

 

"Hätte ich jetzt wohl den Mut, sie anzusprechen, wenn du hier wärst?", dachte ich. Du würdest mir sicher gut zureden, so wie du es immer tust, mich ermutigen, aus meiner Komfortzone auszubrechen. Aber heute warst du nicht da, und ich war auf mich allein gestellt. Trotzdem – was hatte ich zu verlieren? Ein Plan, irgendwie verrückt und doch verlockend, formte sich in meinem Kopf. Ich atmete tief durch, bevor ich mich in Bewegung setzte.

 

Langsam ging ich an ihrer Decke vorbei, die Augen fest auf das Wasser gerichtet, als würde ich den perfekten Platz suchen. Dann – wie geplant – stolperte ich scheinbar unbeholfen. Natürlich absichtlich, aber so gekonnt, dass es echt wirkte. Die Frau hob den Kopf, schaute mich an und fragte mit einem Lächeln, das sie nur schwer unterdrücken konnte: „Alles in Ordnung bei dir?“ Ihr Blick verriet, dass sie Mühe hatte, ein Lachen zurückzuhalten.

Ich grinste sie an, mein Herz klopfte etwas schneller. „Nun ja“, sagte ich, „ich schätze, das passiert dir öfter, dass dir die Männer zu Füßen liegen.“

Sie brach in ein helles Lachen aus, und das Eis war gebrochen. „Ja, lach du nur, während ich mich hier zum Kaspar mache“, sagte ich mit einem spielerisch ironischen Unterton und sah ihr dabei tief in die Augen. Ich war erleichtert, dass sie das Spiel mitmachte. 

„Wenn das ein Anmachversuch war, dann war er zumindest... kreativ“, meinte sie mit einem neckischen Grinsen. 

Ich tat, als hätte ich genau das bezweckt. „Das war’s in der Tat“, antwortete ich und klopfte mir den Sand von der Hose. „Aber ich will dich nicht länger beim Lesen stören.“ Ich machte Anstalten, weiterzugehen, hielt jedoch inne und fragte aus einer Laune heraus: „Was liest du denn da so Spannendes?“

Sie wurde ein wenig verlegen, fast so, als hätte ich sie bei einem Geheimnis erwischt. „Oh, ähm... 'She Flies with Her Own Wings',“ sagte sie, und ein Hauch von Unsicherheit klang in ihrer Stimme mit. „Ein Liebesroman“, fügte sie schnell hinzu, als müsste sie sich dafür rechtfertigen. 

Ich hob eine Augenbraue und schmunzelte. „Ist das nicht der mit der Frau in der WG mit drei Männern?“ Sie sah mich überrascht an und nickte langsam. Ich konnte förmlich sehen, wie sich eine Frage in ihren Augen formte – woher wusste ich das?

 

Und so war das Gespräch in Gang. Wir redeten über Bücher, das Leben, über die Liebe und all die kleinen Dinge, die das Leben besonders machen. Mit jedem Wort, das sie sagte, erinnerte sie mich mehr und mehr an dich. Es war fast, als wäre sie eine andere Version von dir, die ich plötzlich hier, am Flussufer, getroffen hatte. Ein seltsames Gefühl von Vertrautheit legte sich über unser Gespräch, als wären wir keine Fremden, sondern zwei Menschen, die sich schon lange kennen.

 

Während wir so sprachen, verdunkelte sich der Himmel allmählich, und ehe wir es bemerkten, öffnete der Himmel seine Schleusen. Ein plötzlicher Platzregen überraschte uns, und hektisch sammelten wir ihre Sachen zusammen. Tropfnass rannten wir zu ihrem Auto – das, wie sich herausstellte, genau vor meinem Haus geparkt war.

Vor ihrem Auto angekommen, sahen wir uns an, beide völlig durchnässt. „Du wirst so doch krank“, sagte ich und bot ihr an, ins Haus zu kommen, um ihre Sachen in den Trockner zu werfen. Zu meiner Überraschung zögerte sie nicht und nahm mein Angebot sofort an. 

Drinnen zeigte ich ihr das Bad, während ich selbst nach trockener Kleidung suchte. Als ich nach unten kam, trafen wir uns auf der Treppe – beide in frische Kleidung gehüllt, sie in meinem Bademantel. Wir setzten uns auf das Sofa im Wohnzimmer, tranken etwas und sprachen weiter. Doch die Stimmung hatte sich verändert. Sie war intensiver geworden, irgendwie... näher. 

Unsere Blicke trafen sich immer wieder, und ohne es zu merken, kamen wir uns Stück für Stück näher. Schließlich waren unsere Gesichter nur noch einen Atemzug voneinander entfernt. Für einen Moment schien die Welt stillzustehen. Dann, ohne ein weiteres Wort, küssten wir uns – erst zärtlich, dann leidenschaftlich.

Der Regen prasselte draußen auf die Fenster, aber in diesem Moment zählte nur noch das Hier und Jetzt.